Die Stiftung AlltagForschungKunst
trauert um den Stifter Timm Ohrt,
der am 20.08.2022 gestorben ist.

Zum Tod von Timm Ohrt

Am 20.8.2022 starb Timm Ohrt in Hamburg Rissen. Er wurde 86 Jahre alt

Im folgenden Text skizziert Hille von Seggern rückblickend den beruflichen Weg von Timm Ohrt, die gemeinsamen fast 50 Jahre geteilten Lebens und Arbeitens  und den Bewegrund, der 2019 zur Gründung der Stiftung AlltagForschungKunst führte – die ihnen Beiden ein großes Anliegen ist.

Im Alter von 25 Jahren entwarf, plante und bauleitete Timm Ohrt nach seiner „Lehrzeit“ bei dem Architekten Bernhard Pfau in Düsseldorf das heutige, denkmalgeschützte Stiftungshaus „Am Leuchtturm“ in Hamburg Rissen-Tinsdal Anfang der 1960er Jahre für seine Eltern und seine beiden Schwestern. Das Haus – ein ausgefachter Holzskelettbau, mit unglaublich geschickten und genauen konstruktiven Elementen – hat große, helle Wohn- und Atelierräume, kleine kajütenähnliche Schlafräume, geschützte Galerieräume,  vielseitige übergangslose Verschmelzungen von Innen und Außen zu Höfen und Garten. Es lebt bis heute im Ganzen und in jedem Detail von Timm Ohrts Handschrift. Die Atmosphäre bezaubert und unterstützt kreatives Tun und Denken – wie sich immer wieder u.a. beim jährlichen DoktorandInnen Colloquium des Studio Urbane Landschaften zeigt. Das Haus Am Leuchtturm kann man als einen Prototypen seines Gestaltens verstehen.

Danach entwarf Timm Ohrt viele Einfamilienhäuser –  und tauchte dazu lange fragend tief in die Lebensweisen der Menschen ein. Für ein Jahr lernte er dann „verwaltungsmäßigen“ Städtebau in der Baubehörde Hamburg – lernte vor allem die Stadtplanungsscene kennen und begann, städtebaulich zu entwerfen und gewann seinen ersten städtebaulichen Wettbewerb. Mit seinem Partner Klaus Nickels entwarf und realisierte er sehr unterschiedliche Gebäudetypen wie Gemeindezentren (Osdorfer Born und Norderstedt), Schulen  dann sehr viel später auch Kino, Verwaltungsbauten,  und vor allem das Stadtquartier Tegelsbarg und das innerstädtische Quartier Harburg S2 mit dem Freizeitzentrum Riekhof(f) (mit Jörg Nienburg) in Harburg – und immer wieder sozialen Wohnungsbau. Dabei rang er den engen Regeln des sozialen Wohnungsbaus in vielen, vielen Formen wunderbare Grundrisse ab und die sozialräumlichen Qualitäten der Quartiere lagen ihm am Herzen. Er verstand wie von selbst das jeweils große Ganze und das Kleine bis zum Detail zusammen zu denken.

Timm und ich trafen uns 1973 und begannen auch gleich zusammen zu arbeiten. In der Folge begannen die Projekte allmählich Spuren davon zu tragen. So stieg Timm Ohrt mit großem Vergnügen mit seiner Neugier in das erste gemeinsame Forschungsprojekt ein: „Kinder in der Inneren Stadt“, aus dem ein Modellversuch zur Umsetzung folgte. Wir wollten ein lebendiges Leben in all seinen Facetten befördern. Es entstanden öffentliche Plätze wie der Rathausmarkt in Hamburg, die Bahnhofsvorplätze in Hannover und Leipzig, der Rathausmarkt in Oldenburg vor allem aber großräumige städtebauliche Projekte. Timm Ohrt – mit PartnerInnen - hat allein in Hamburg und Umgebung zehn Quartiere realisiert. Aber auch verkehrliche Infrastrukturbauten wie eine U-Bahnstation oder ein Busbahnhof oder der Umbau von Straßenräumen sind unter den Projekten. Die meisten folgten aus gewonnenen Wettbewerben. Würdigung finden heute viele Projekte durch den Denkmalschutz.

Gleichzeitig zu seiner langjährigen Tätigkeit als Büroinhaber – zunächst mit Klaus Nickels, dann mit Klaus Nickels und Werner Feldsien, seit 1982 mit Hille von Seggern - war ihm Kunst ein wichtiger Teil seiner Arbeit und der gemeinsamen Arbeit.   So schaffte er es z.B. immer wieder mit kleinem humorvollen künstlerischem Ausdruck seine Projekte zu akzentuieren: wie mit der Plastik „Augen und Ohren“ vor dem Kino in Norderstedt, dem Musikgully auf dem Platz in Hannover oder den Mümmelmännern – Hasen von Karin Palluch gestaltet -  an den Wänden der U-Bahnstation Mümmelmannsberg oder mit dem Prozess der Tapetenwand im Tordurchgang des Hauses Mottenburger Twiete – mit mir und einer Ausstellung gemeinsam mit Till Krause. Aus dem Akzente setzen, wurde in seinen späten Lebensjahren das immer größer werdende Anliegen, gemeinsam Kunst als wirksame Eingriffe im Raumgeschehen und als experimentelles Forschungstool zu benutzten. So wurde Timm Ohrt mit seiner Neugier und seiner Meisterschaft in der Kommunikation zum begehrten Berater, Begleiter, Inspirator für Forschung und Lehre. Bestandteil davon war, dass er es liebte zu kochen, zu reisen, zu wandern, dass er trommelte/Schlagzeug spielte und es verstand kleine und große Feiern zu gestalten: Er war sehr, sehr gerne mit Menschen zusammen!

Wir  - Timm und Hille oder Hille und Timm, wie es je nach Kontext immer hieß – teilten ein Leben voller Neugier, erkundeten immer und (fast) alles, arbeiteten zusammen an Stadt- ,Freiraum-, Kunst- und Forschungsprojekten: Worum es dabei immer ging, war ein lebendiges Leben zu leben und zu befördern.

Lebendiges Leben – was ist das? Ein Leben, das das kreative, gestaltende Potential, die Entfaltung der jeweiligen Möglichkeiten meint. Ein Leben in Präsenz. Vielleicht gehört dazu, dass Timm Ohrt als Kind Regenwürmer von der Straße rettete und regelmäßig zu spät zur Schule kam – zur Schule, in der er es als Legastheniker (damals unbekannt) sehr schwer hatte. Aber er verfügte über eine spezielle Fähigkeit: ein ganzheitliches Verstehen von Situationen und Prozessen, etwas das gebauten, gewordenen, werdenden Raum einschloss - genau wie Arten, Gewohnheiten, Regeln, Besonderes und Alltägliches, Chancen und Risiken. Timm Ohrt fragte, hörte zu, war dabei, mit allen Sinnen, wurde immer Teil des Geschehens – liebte das Leben. Und aus all diesem hatte er plötzlich Entwurfsideen, Forschungsfragen, Lösungen und skizzierte sie als Zeichnungen in unglaublicher Geschwindigkeit – und war dann im Durcharbeiten der Ideen von größter Disziplin. Timm Ohrt selber konnte diese besondere Fähigkeit nicht gut erklären oder formulieren – er hatte sie einfach und lebte sie. Er wurde damit oft nicht verstanden, nicht gehört.

Mit dieser Liebe zum Leben, dem Wunsch, lebendiges leben zu befördern und mit dieser komplexen Neugier konnten wir ein wunderbares Leben leben und viele Planungs- , Kunst- und Forschungsprojekte verwirklichen. Fast immer lagen diese Projekte in den Grenzräumen der Disziplinen: das Lebendige sperrt sich gegen allzu enge Trennungen und es stößt sich an der etablierten Organisation und dem Verständnis von Arbeit und Leben – es braucht Spielräume und Menschen wie Timm Ohrt. Er wurde deshalb zum Stifter: mit dem tiefen Wunsch, ein wenig Spielraum für lebendiges Leben im raumbezogenen entwerfenden Handeln zu schaffen.

Über die Stiftung

Die Stiftung AlltagForschungKunst möchte nachhaltiges, lebendiges Leben befördern. Sie befasst sich mit lebensweltlichen Fragen und bearbeitet sie in Projekten in transdisziplinären Zusammenspiel von Alltag, Forschung und Kunst. Dabei ist der räumliche Blick von besonderer Bedeutung. Raum wird als ein Geschehen begriffen, eine immer bewegte Natur, zu der Menschen mit ihrem Denken, Fühlen und Tun gehören. Ihre AkteurInnen begeben sich deshalb zuhörend, verstehend, entwerferisch und experimentell unmittelbar in örtliche Geschehen. Sie arbeiten mit partizipativen künstlerischen, wissenschaftlichen und alltäglichen Herangehensweisen – oft perfomativ experimentell. So entstehen tiefe Erkenntnisse. Transformation wird befördert.

Die Stiftung ist eine operative Stiftung. Projekte werden in Eigenregie entwickelt und durchgeführt. Darüber hinaus kooperiert sie mit Projektpartnern.

Die Stiftung AlltagForschungKunst ist treuhänderisch bei der Patriotischen Gesellschaft, Hamburg angesiedelt. Der Treuhänderin obliegt die Verwaltung und die Überprüfung der Wahrung der Gemeinnützigkeit. Der Vorstand der Stiftung entscheidet über die inhaltliche Arbeit und bearbeitet Projekte der Stiftung.

Die Patriotische Gesellschaft von 1765 ist eine alte, verlässliche Institution, der wir gerne vertrauen. Sie engagiert sich für Hamburg zur gesellschaftlichen Teilhabe, zur Bildung, zur Kunst und zu „nützlichem“ Gewerbe und greift dabei immer wieder Raum-bezogene Themen auf. Sie ist damit der Stiftung nah, ist traditionsreich und modern zugleich, sodass wir hoffen, uns gemeinsam in zukünftig wichtige Felder begeben zu können und uns einzumischen.

 

 
Foto Heiner Leiska
Tegelsbarger Geschichten
Timm Ohrt
Forscherstühle
Tegelsbarger Geschichten