#1 August 2018

Landa van Vliet / Andre Dekker

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VILLA TINSDAL

Wer einmal das Wort Otium und seinen Gegenpart das Wort Negotium kennengelernt hat, teilt sein Leben zwischen Arbeit und Freizeit neu auf. In den Urlaub fährt man, wenn es gar nicht anders geht. Negotium ist unser Leben in der Gemeinschaft, das wir mit den anderen Menschen verhandeln. Otium ist die Muße, die Besinnung auf den Alltag und die Entspannung, die einen auf die Wiederkehr oder den Neuanfang vorbereitet.
Verglichen mit Otium ist Urlaub Knochenarbeit. Man sammelt Bilder und Erfahrungen, bestaunt die Wunder des fremden Landes und besucht zu viele Kunst- und Kulturstätten. Es ist bloße Anstrengung, wirkliches Nichtstun wird unmöglich. Otium hingegen ist nicht die Anstrengung nichts zu tun, sonder das Nichtstun als Schaffen. Otium ist Reflexion in der Stille, damit man das Echo des Alltäglichen hört. Otium ist Zeit und Raum, sich das Leben vorzustellen statt zu leben, eine Veränderung vorzubereiten oder einfach: gedehnte Zeit der Aufmerksamkeit (Nld. aandacht) ohne Unterhaltung, Besichtigungen oder interessante Reisen. Man ziehe sich in einen Kleingarten, eine Hütte an irgendeiner Küste oder einem
Hotelzimmer zurück und warte.
Man nehme sich bloß vor, sich auf das Getane zu konzentrieren und sich vor neuen Eindrücken zu bewahren. Wie Sprösslinge sprießen dann die Erinnerungen aus dem Boden hervor. In Wellen kommen sie als Ideen angerollt. Und wie die Römer an der Küste, die Erfinder des Begriffspaares Otium/Negotium, würde man gerne über eine Villa am Meer, einen stillen Lustgarten, samt Studio mit hohen Fenstern in abwechslungsreicher Landschaft verfügen. Arkadien, Seufzer – braucht niemand.

Im heißen, trockenen Sommer 2018 stellte uns die Hamburgische Stiftung in Gründung (i.G.) Alltag-Forschung-Kunst
ein Domizil zur Verfügung, das sich wie die römische Villa beschreiben lässt, aber eben an der Elbe, zwischen Heide, Wald und Moor, in Tinsdal. Das Angebot
an Zeit und Raum war so reichhaltig wie im Kloster. Ganz auf uns gestellt, fanden wir eine Geborgenheit in der Gastfreundschaf und eine weite Freiheit,
uns dem Lauf der Dinge auszusetzen, indem wir nichts unternahmen. Wir übergaben uns all dem, was einem widerfährt, was sich in einem tut, wenn
man nichts tut. Schließlich wurden Gedanken zu Sätzen und Ideen zu Kurzgeschichten. Muße ist Humus.

Wir haben jeden Tag überlegt, wie wir, die stolzen, ersten Gästen der Stiftung, den Gastgebern, deutlich machen können, wie einmalig das Leben wird, wenn man ohne Vorbehalte oder Pflichten eine schier unendliche Zeit dieses denkmalgeschützte Haus mit Bibliothek bewohnen kann. Jeden Tag gaben wir, den Alltag erforschend, ein Lebenszeichen, das Verwandtschaft zwischen uns Gästen und den Gastgebern ausdrückt. Die offizielle Bezeichnung Atelierhaus Orth klingt nach Arbeit... wir nennen es Villa Tinsdal nach der Bezeichnung der Gegend in topographischen Karten. Wir meinten, die dreihundert Meter zwischen Haus und Fluss wären vom skandinavischen Eis geformt.
Später fanden wir andere, ebenso plausibele Worterklärungen: tin – Moor, dalle – feuchte Kuhle (Wudtke) oder tins – jenseits, dal – hinab, zum Ende des Tales (Ruskowsky).
Jenseits ist gut.

Landa van Vliet / Andre Dekker
Villa Tinsdal, im August 2018

 

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